Wenn es im Zusammenhang mit Kindern um Respekt geht, dann ist für viele, vor allem ältere Generationen klar, was damit gemeint ist: Kinder sollten Erwachsenen gegenüber Respekt zeigen. Daran ist ja auch nichts auszusetzen: Ein respektvoller Umgang miteinander tut schließlich allen gut. Aber wie sieht es mit dem Respekt aus, den Erwachsene Kindern gegenüber zeigen sollten?
Der bekannte, inzwischen verstorbene Familientherapeut Jesper Juul hat zu Lebzeiten einen Satz geprägt, den man ohne Weiteres als eine der wichtigsten Grundregeln im Umgang mit Kindern bezeichnen kann. Er sagte: Zeigen Sie einem Kind gegenüber denselben Respekt, den Sie auch einem Erwachsenen entgegenbringen.“
Würden wir so auch mit unserem Partner sprechen?
Dass Kinder richtige Menschen sind, ist uns natürlich allen bewusst. Trotzdem werden sie manchmal schlechter behandelt als Erwachsene – sogar von ihren eigenen Eltern, denen das oft gar nicht auffällt. Es ist aber leicht, die eigene Haltung und auch die eigenen Aussagen gegenüber unseren Kindern auf den Prüfstand zu stellen, indem wir überlegen: Würde ich das so auch zu meinem Partner oder meiner besten Freundin sagen?
Es mag banal klingen, doch oft fällt uns dann auf, dass wir mit Kindern unfreundlicher sprechen oder Dinge von ihnen verlangen, die wir von einem Erwachsenen nie erwarten würden. Es lohnt sich deshalb, einmal die eigenen Motive zu hinterfragen: Will ich, dass mein Kind mich respektiert? Oder will ich, dass mein Kind tut, was ich will?
In Wahrheit geht es um Gehorsam
Nicht selten werden Kinder, die sagen, was sie denken oder tun, was sie wollen, als respektlos bezeichnet. Doch hier werden zwei unterschiedliche Dinge in einen Topf geworfen:
„Oft habe ich erlebt, dass die Forderung nach Respekt in Wahrheit eine Forderung nach Gehorsam ist. Und damit eine Forderung nach bedingungsloser Unterordnung. Und die ist völlig fehl am Platz“, sagt Voelchert. Denn so, wie wir Kinder begleiten, so bereiten wir sie auf ein Leben vor, das sie eines Tages eigenständig meistern müssen. Wer sich heute im Beruf bedingungslos unterordne, sei schnell weg vom Fenster, gibt der Familientherapeut zu bedenken: „Das will kein Arbeitgeber heute mehr, sondern es sind Menschen mit Eigeninitiative gefragt.“
Die Würde des anderen anerkennen
„Respekt heißt, dass ich auch völlig andersdenkende Menschen akzeptiere. Ich muss nicht mit ihnen einer Meinung sein, aber ich muss ihre Würde anerkennen. Und wenn jemand so eine Haltung hat, spürt das auch das Gegenüber.“ Dies treffe insbesondere auf Kinder zu, da sie sehr oft anders denken als Erwachsene.
„Wir fordern an vielen Stellen Respekt. Respekt im Sport, Respekt gegenüber Menschen unterschiedlicher Herkunft. Aber dieselben Menschen, die das fordern, disziplinieren ihre Kinder. Und das ist ein Widerspruch“, sagt Mathias Voelchert.
Denn indem wir Kindern unseren Willen aufzwingen und sie nach unseren Vorstellungen zu formen versuchen, verhalten wir uns in höchstem Maße respektlos.
Mit Kindern respektvoll umgehen
Aber es geht auch anders. Indem wir anerkennen, dass Kinder die gleiche Menschenwürde haben, aber auch erkennen, dass sie nicht gleich sind. Kinder sind keine kleinen Erwachsenen. Sondern kleine Menschen, die noch viel lernen müssen und die wenig Erfahrung haben.
„Zu meinen Kindern habe ich oft gesagt: Ich würde es so und so machen. Oder meine Erfahrung ist die und die. Aber was du machst, musst du selbst entscheiden“, erläutert der Familienexperte. „Auf die Art und Weise kann man als Elternteil klarmachen, wie man über etwas denkt, ohne dabei dem Kind vorzuschreiben, wie es sich zu verhalten hat. Und das ist respektvoll.“
Respekt ist nicht auf Knopfdruck vorhanden
Wer also möchte, dass sein Kind sich respektvoll verhält, der muss das am besten auch vorleben. Ich kann als Mutter oder Vater nicht erwarten, dass mein Kind mich respektiert, wenn ich mich selbst nicht respektvoll verhalte. Außerdem dürfen wir nicht vergessen, dass es Erfahrungen braucht, um zu einer respektvollen Haltung zu gelangen. Eine Voraussetzung ist auch Empathiefähigkeit: Die Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinversetzen und mit ihnen mitfühlen zu können. Kindern gelingt diese Art des Perspektivwechsels erst ab einem Alter von ungefähr fünf Jahren und wird Schritt für Schritt weiterentwickelt. Wir sollten deshalb vor allem von kleinen Kindern nicht zu viel erwarten und ihnen die Zeit und den Raum geben, um diese wichtigen Fähigkeiten zu entwickeln.
„Respekt ist nichts, das auf Knopfdruck vorhanden ist. Sondern es ist das Endstadium einer persönlichen Entwicklung. Und das kann man durch ein gutes Vorbild erreichen, indem das Kind zum Beispiel seine Eltern dabei beobachten kann, wie sie respektvoll mit jedem Busfahrer und mit jedem Menschen an der Supermarktkasse umgehen. Wie sie andere Menschen unterstützen und wie sie mit ihnen sprechen. Dann lernen die Kinder: So geht man mit den anderen Menschen um.“(Mathias Voelchert)
(Quelle: FOCUS-online-Redakteurin Gina Louisa Metzler, Freitag, 27.01.2023)